Kulturphilosophisches Forum

Kulturelle Energien

KulturNetz Kassel e.V.
Zwischenbericht 17. 09. 2008
Michael Evers


„Kulturelle Energien“ ist ein kulturphilosophisches Gesprächsforum, das im Juli 2006 startete.
Es findet an jedem ersten Mittwoch im Monat (19.30 Uhr) im Veranstaltungsraum des Kulturfördervereins KulturNetz Kassel e.V. statt.


Themenübersicht

Primärenergie

„Kulturelle Energien“ ist langfristig und als kontinuierliches Gespräch konzipiert. Die Themen werden von den Beteiligten in Form von Kurzvorträgen vorgegeben, wobei in unregelmäßiger Folge auch Fachleute zu speziellen Themen eingeladen werden. Die Hoffnung, die sich mit diesem Projekt verbindet, ist, neben dem ökonomistischen Zeitgeist einen offenen Raum für kulturelle Energien zu schaffen: eine freie kulturelle Sphäre. Angesichts einer Kultur, in der zwischen Echtem und Inszenierung nicht mehr unterschieden wird, ist es notwendig, die philosophischen Vorannahmen zu analysieren, die den heute herrschenden Weltanschauungen zu Grunde liegen. Vielleicht können so alternative Formen des Denkens geöffnet und neue kulturelle Energien frei gemacht werden. Speziell auch Inhalte von außerhalb des Mainstreams sollen einbezogen und aktualisiert werden. Besondere Bedeutung kommt der Beobachtung der gesellschaftlichen Veränderungen zu, die durch die „Kultur des neuen Kapitalismus“ (Sennet 1998), durch neoliberale Politik und Ökonomismus sichtbar und spürbar sind. Auch die Auswirkungen, die Neonaturalismus, Evolutionstheorie und die Ergebnisse der aktuellen Gehirnforschung auf Kunst und Kultur haben, sollen untersucht werden, wobei der Frage nach dem Menschenbild die entscheidende Bedeutung zukommt. An dieser Stelle wird auch die Frage gestellt, welche Position Künstler und Kulturschaffende angesichts dieser Entwicklungen beziehen können.

Im Gespräch als künstlerische Form wird Wissen aus unterschiedlichen Kontexten verflüssigt
und vernetzt. Das Projekt „Kulturelle Energien“ ist auch als ein sozialer Prozeß zu sehen und
als solcher eine künstlerische Aufgabe im Sinne der Einheit von Kunst und Leben und der Erweiterung des Kunstbegriffs in den Bereich des Sozialen. Es ist als eine zum herrschenden Mainstream komplementäre Kulturinitiative gedacht. Die Grundidee ist hierbei, daß Kultur und nicht die Ökonomie die Primärenergie der Gesellschaft ist.

Kulturgesellschaft

Den Auftakt des Gesprächforums im Sommer 2006 machte das Buch von Adrienne Goehler „Verflüssigungen - Wege und Umwege vom Sozialstaat zur Kulturgesellschaft“ ( 2006 - Ende November war sie vom KulturNetz zu einer Podiumsdiskussion nach Kassel eingeladen), in dem sie, vor dem Hintergrund des Wandels der Ökonomien und Arbeitswelten, die Grundzüge einer Kulturgesellschaft entwirft. An Politik und Wirtschaft stellt sie die Forderung, den Künsten und Wissenschaften bei der Lösung gesellschaftlicher Probleme und für zukünftige Entwicklungen generell mehr Bedeutung beizumessen.

Identität

Ein bedeutsames Thema wird in Zukunft die Neuentdeckung der Natur sein. Die zentrale Problematik der Moderne, nämlich die Beziehung zwischen Ökonomie, Technologie und Natur und die Bewältigung ökologischer Krisen, wird in den westlichen Gesellschaften bis jetzt lediglich ökonomisch und technologisch gedacht. Doch fordert die einseitig instrumentelle Rationalität der westlichen Kultur angesichts des Klimawandels langfristig doch einen Paradigmenwechsel im Denken. Hier muß nach Anknüpfungsmöglichkeiten an alternative Denkformen gesucht werden.
Die postmoderne Dekonstruktion war ein Versuch, den westlichen Logozentrismus zu entthronen und marginalisierte Ansätze zu emanzipieren. Durch das Dekonstruktivismusparadigma jedoch, das in den heutigen Mentalitäten oft vorherrscht, werden Ansätze, die auf einen integralen Natur- und Wirklichkeitsbegriff abzielen, generell negiert. Für eine andere Umgehensweise mit Natur hingegen sind Ganzheitsmodelle notwendig.

Eine Verbindung von Ökologie und Kunst bzw. Ästhetik, wie sie der zeitgenössische Naturphilosoph Gernot Böhme in seiner Schrift „Die Natur vor uns“ (Böhme 2004) untersucht hat, ist ein Thema, das künstlerisch und philosophisch zu bearbeiten langfristig wichtig zu werden scheint. Gernot Böhme behauptet in seinem Buch, dass es ein Irrtum sei zu glauben, die Natur läge hinter uns, durch Naturwissenschaft und Technologie könne sie als bezwungen oder befriedet angesehen werden. Das Gegenteil träfe zu, dass nämlich die Natur in ihrer Zerstörung als kulturelles und speziell künstlerisches Arbeitsfeld noch vor uns läge und der Mensch seit der Moderne für den Fortgang der Evolution verantwortlich sei. Nicht Naturbeherrschung, sondern Naturtransformation müsse zur zukünftigen Zielorientierung werden, im Rahmen derer die Kunst neben Wissenschaft und Technik eine wesentliche Bedeutung zukomme. Für diese Aufgabe sei in den verschiedenen Formen historischen kulturellen Wissens nach Anknüpfungsmöglichkeiten für einen Orientierungswechsel zu suchen.

Das Ganzheitsdenken der Frühromantik und der Naturphilosophie in Deutschland ist eine Weltanschauung, die historisch auf der Verliererseite steht, vielleicht jedoch wiederentdeckt werden sollte, um das darin liegende Potential für die Zukunft zu aktivieren. Anknüpfend an naturphilosophische Modelle, z.B. von Schelling, Goethe oder auch Joseph Beuys, kann die Suche nach wegweisenden ökologischen Konzepten vertieft werden. Ganzheitlichkeit lässt sich verschieden denken. Ein Wesensmerkmal ist, im Gegensatz zum heute vorherrschenden horizontalen, funktionalen Systemdenken, die Dialektik von Identität und Differenz, von Idee und Erscheinung, eine ontologische Tiefenstruktur, die auf die Antike zurückgeht und seit Beginn der Moderne der kontinuierlichen Demontage unterliegt.
Das Programm der Neuzeit besteht offenbar darin, die restlose Absetzung des Identitätsbegriffs und die uneingeschränkte Herrschaft der Differenz herbeizuführen. Doch ist das wohl kaum der Weisheit letzter Schluß.


Kunstbegriff

In einer Reihe von Gesprächen wurde aus verschiedenen Blickwinkeln der Kulturbegriff untersucht. Kultur ist die gesellschaftliche Sphäre, in der der Mensch Lebensformen und Qualitäten entwickelt, die über den reinen Lebenskampf hinausgehen; in der er seine Existenz emporhebt, indem er die Bedingungen seines Daseins reflektiert und sublimiert. Im Anschluß an diese grundsätzlichen Überlegungen drehte sich das Gespräch, stark unterstützt von Dr. Peter Guttenhöfer (Kassel), während einer längeren Phase um die Kultur der Frühromantik, wobei Fragmente von Novalis als Ausgangspunkt dienten. Über mehrere Abende standen mit Schillers „Briefen zur ästhetischen Erziehung des Menschen“ Ideen des Deutschen Idealismus im Mittelpunkt. Es war offensichtlich, dass diese Inhalte nicht nur Gegenstand literaturwissenschaftlicher Bemühungen sein sollten, sondern ausgesprochen existentiell und zeitgemäß sind und die Menschen heute berühren. Von dort entwickelte sich der Diskurs zu Joseph Beuys und seinem „Erweiterten Kunstbegriff“, der deutlich von der Erweiterung bzw. Liberalisierung des Kunstkontextes durch Marcel Duchamp zu unter- scheiden ist. Schiller hatte in seiner Philosophie, als Reaktion auf Kant, ein dreipoliges Denkmodell ausgebildet, indem er von drei Grundtrieben des Menschen ausging: Stofftrieb, Formtrieb und Spieltrieb. Beuys machte daraus, auch anknüpfend an Rudolph Steiner, seine Dreigliederung des Kunstbegriffs. Seinem Denken lag ein dialektisches, ontologisches Tiefenmodell zu Grunde, das die Kategorien des bewussten Denkens, des energetischen, chaotischen Willens und drittens der Bewegung umfasste. Im Bewegungsprinzip, das, wie bei Schiller der Spieltrieb, die Vermittlung zwischen den Gegensätzen darstellte, sah er die Sphäre der Transzendenz. Er nannte es auch den Wärmepol: „Alles kommt auf den Wärmecharakter im Denken an“. Die Erweiterung des Kunst- begriffs im Beuys´schen Sinne ist vor allem auf diesem Hintergrund zu sehen.

Chartres

Dr. Tilman Evers vom „Forum Ziviler Friedensdienst“ hielt einen Vortrag über „Die Schule von Chartres im 12. Jahrhundert“(05.07). Säkulare Gesellschaft und Religion ist ein aktuelles Thema, dass aus verschiedenen Blickrichtungen untersucht werden sollte, wobei der religions- geschichtlichen und philosophischen Herangehensweise eine ebensogroße Bedeutung zukommt wie der individuellen Suche nach Spiritualität. Der Vortrag gab ein anschauliches Bild von den religiösen Vorstellungs- welten im Frankreich des 12. Jahrhunderts und skizzierte die großartige Kultur der Gotik im Kontext der geistesgeschichtlichen Entwicklung Europas. Die Kathedrale von Chartres war ein Zentrum der neoplatonischen Frühscholastik.

Anglizismen

Eva Maria Kieselbach vom Verein Deutsche Sprache e.V. stellte in ihrem Vortrag „Deutsch oder Denglisch“ ihre „Betrachtungen über Anglizismen“ vor (06.2007). In diesem Zusammenhang rücken die Fragen nach der kulturellen Identität der Deutschen und ihr Verhältnis zu ihrer Sprache ins Zentrum der Betrachtung. Sicherlich muß hier gesehen werden, daß das nominalistische, moderne Sprachverständnis eine freie Umgehensweise mit Zeichen und ihren Bedeutungen zuläßt. Die Relation zwischen dem Bezeichnenden und dem Bezeichneten ist willkürlich. Sprachspiele, das auf temporäre Konventionen beruhende Spiel mit Zeichen, ersetzen den klassischen Wahrheitsdiskurs. Englisch als Weltsprache, als Sprache der Ökonomie und Wissenschaft, ist eine Sache; wenn jedoch deutsche Sprachformen sich dem englischen Satzbau anpassen und vertraute Inhalte mit englischen Wörtern gesteigert und aufgewertet werden sollen, drückt sich darin ein Unterlegenheitsgefühl aus. Wenn es stimmt, dass die Sprache das Herz der Kultur ist, dann zeigt sich hier ein Identitätsverlust gegenüber der eigenen Kultur, ein Identitätsverlust, dessen Ursache zweifellos auch im Nationalsozialismus zu finden ist.

Schelling

„Prozeß und Vollendung. Schelling und das Naturproblem“ lautete der Titel eines Vortrags, den Prof. Dr. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik hielt (6.Febr. 08) Schmied-Kowarzik entwickelte die Grundzüge von Schellings Naturphilosophie mit der Perspektive einer notwendigen Ergänzung und Korrektur des in der Moderne herrschenden Naturbegriffs. Einem durch Naturwissenschaft und Technik bestimmtes, reduktionistisches Verständnis von Natur wird aller Voraussicht nach durch sein Zerstörungspotential eine Grenze gesetzt. Schelling hat, als Philosoph des Deutschen Idealismus ebenso wie Fichte, an die Transzendentalphilosophie Kants angeknüpft. Er hat jedoch parallel dazu eine Naturphilosophie entworfen, in der er nicht mehr nur die Bedingungen der Möglichkeit des Erkennens untersuchte und Erkenntnis auf die internen Vernunftskonstruktionen des Selbstbewußtseins beschränkte, sondern Prozesse der Natur im Denken gleichsam rekonstruierte. In einer Vielzahl von Ansätzen versuchte Schelling, mit dem Denken die tatsächlichen, realen Seinsbedingungen der Natur in ihrer Entstehung und in ihren sich wandelnden Formen zu erkennen. Er überwand den Skeptizismus des modernen erkenntnistheoretischen Ansatzes Kants und fand eine Möglichkeit, Naturphilosophie, wie sie seit der Antike die europäische Kultur und Geistesgeschichte geprägt hat, auf eine Weise zu denken, die transzendental auf rationalen Verstandesbegriffen und Kategorien der Vernunft aufgebaut ist. Eine zentrale Idee hierbei ist die des Organismus als einer Gestaltung der Natur, die sich aus einer Duplizität von Kräften entfaltet. Am Anfang setzt Schelling die unendliche Produktivität der Natur, in der, von einer notwendigen Gegenkraft, die Schelling als Hemmung bezeichnet, begrenzt, sich der Organismus bildet. Die Wirbelmetapher macht das deutlich: In einem unendlich fließenden Strom ist der Wirbel, indem er sich an einer Stauung manifestiert, eine sich gleich bleibende Form, die ständig durchflossen sich lebend verändert.

Schelling unterschied zwischen der natura naturata, der gewordenen Natur, womit das Naturprodukt als objektivierbarer und erforschbarer Gegenstand gemeint ist, und der natur naturans, also der werdenden Natur, die als Ganzheit gedacht werden muß, in der der Mensch integriert ist und dementsprechend nicht als Subjekt heraustreten und sich den zu erforschenden Gegenstand unterwerfen kann. Eine mögliche Konsequenzen dieser Denkfigur ist „die Natur als Subjekt“, wodurch der naturwissenschaftliche Zugriff relativiert und Naturwissenschaft nicht wie heute üblich absolut gesetzt, sondern als integrativer Teile eines Ganzen gesehen werden kann. Die „Natur als Subjekt“ steht dem erkennenden Subjekt so als gleichberechtigt und als nicht vollständig beherrschbar gegenüber.

Schellings Wirkung auf Wissenschaft und Philosophie war sehr groß. Seit der endgültigen Durchsetzung des positivistischen, materialistischen Wissenschaftsbegriffs in der Mitte des 19. Jahrhunderts ist sein Denken marginalisiert. Allerdings wurde die Dialektik als Bewegungslogik der Natur von Marx aufgegriffen und zum Grundprinzip historischer Prozesse weiterentwickelt. Die naturphilosophische Ontologie Schellings wurde so zum historischen Materialismus, zum Entwicklungsprinzip von Gesellschaften, transformiert.





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