
Kulturelle Energien
KulturNetz Kassel e.V.Zwischenbericht 17. 09. 2008
Michael Evers
„Kulturelle Energien“ ist ein kulturphilosophisches Gesprächsforum,
das im Juli 2006 startete.
Es findet an jedem ersten Mittwoch im Monat (19.30 Uhr) im Veranstaltungsraum
des Kulturfördervereins KulturNetz Kassel e.V. statt.
Themenübersicht
- Genese des Spielbegriffs bei Schiller ( mit Dr. Peter Guttenhöfer – Jan.07)
- Die Würde des Unbekannten – über Novalis (Febr.07)
- Transformation bei Schiller und Beuys (März 07)
- Vortrag von Tilman Evers: Die Schule von Chartres im 12. Jahrhundert (April 07)
- Auf der Suche nach einer Kultur der Transformation (Mai 07).
- Vortrag von Eva Maria Kieselbach: „Deutsch oder Denglisch“
- Betrachtungen über
Anglizismen (Juni 07) - Das Sein, das in der Kunst spricht - Gespräche über die documenta 12 (Sept. 07)
- Aktuelle Kulturimpulse aus dem Geist der Romantik (mit Karl-Heinz Nickel - Nov. 07)
- Die Identität aller Dinge – Philosophieren mit Schelling ( mit Dr. Klaus Baum – Dez. 07)
- Vortrag von Prof. Dr. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik: Prozeß und
Vollendung. Schelling
und das Naturproblem (Febr. 08) - Das Verhältnis von Kunst und Natur angesichts des Klimawandels
vor dem Hintergrund
der Naturphilosophie Schellings (März 08) - Vortrag von Herbert Troup: Wie wirklich ist die Wirklichkeit? Die moderne
Physik und die
Realität (April 08) - Vortrag von Dr. Klaus Baum: Wie ein Leben im Exil – Vincent van
Gogh oder: der Künstler als
Außenseiter des Kunstbetriebs (Mai 08) - Vortrag von Prof. Dr. Ernst-D. Lantermann: Gefühl und Verstand im künstlerischen Prozeß (Juni 08)
- Hirnforschung und die Biologisierung der Kunst (Aug. 08)
- Filme und Gespräche über Beuys (Sept. 08)
- Vortrag von Bernhard Balkenhol: „Aus dem Umgang mit Kunst heraus“ (Okt.08)
Primärenergie
„Kulturelle Energien“ ist langfristig und als kontinuierliches
Gespräch konzipiert. Die Themen werden von den Beteiligten in Form
von Kurzvorträgen vorgegeben, wobei in unregelmäßiger Folge
auch Fachleute zu speziellen Themen eingeladen werden. Die Hoffnung, die
sich mit diesem Projekt verbindet, ist, neben dem ökonomistischen Zeitgeist
einen offenen Raum für kulturelle Energien zu schaffen: eine freie
kulturelle Sphäre. Angesichts einer Kultur, in der zwischen Echtem
und Inszenierung nicht mehr unterschieden wird, ist es notwendig, die philosophischen
Vorannahmen zu analysieren, die den heute herrschenden Weltanschauungen
zu Grunde liegen. Vielleicht können so alternative Formen des Denkens
geöffnet und neue kulturelle Energien frei gemacht werden. Speziell
auch Inhalte von außerhalb des Mainstreams sollen einbezogen und aktualisiert
werden. Besondere Bedeutung kommt der Beobachtung der gesellschaftlichen
Veränderungen zu, die durch die „Kultur des neuen Kapitalismus“
(Sennet 1998), durch neoliberale Politik und Ökonomismus sichtbar und
spürbar sind. Auch die Auswirkungen, die Neonaturalismus, Evolutionstheorie
und die Ergebnisse der aktuellen Gehirnforschung auf Kunst und Kultur haben,
sollen untersucht werden, wobei der Frage nach dem Menschenbild die entscheidende
Bedeutung zukommt. An dieser Stelle wird auch die Frage gestellt, welche
Position Künstler und Kulturschaffende angesichts dieser Entwicklungen
beziehen können.
Im Gespräch als künstlerische Form wird Wissen aus unterschiedlichen
Kontexten verflüssigt
und vernetzt. Das Projekt „Kulturelle Energien“ ist auch als
ein sozialer Prozeß zu sehen und
als solcher eine künstlerische Aufgabe im Sinne der Einheit von Kunst
und Leben und der Erweiterung des Kunstbegriffs in den Bereich des Sozialen.
Es ist als eine zum herrschenden Mainstream komplementäre Kulturinitiative
gedacht. Die Grundidee ist hierbei, daß Kultur und nicht die Ökonomie
die Primärenergie der Gesellschaft ist.
Kulturgesellschaft
Den Auftakt des Gesprächforums im Sommer 2006 machte das Buch von Adrienne
Goehler „Verflüssigungen - Wege und Umwege vom Sozialstaat zur
Kulturgesellschaft“ ( 2006 - Ende November war sie vom KulturNetz
zu einer Podiumsdiskussion nach Kassel eingeladen), in dem sie, vor dem
Hintergrund des Wandels der Ökonomien und Arbeitswelten, die Grundzüge
einer Kulturgesellschaft entwirft. An Politik und Wirtschaft stellt sie
die Forderung, den Künsten und Wissenschaften bei der Lösung gesellschaftlicher
Probleme und für zukünftige Entwicklungen generell mehr Bedeutung
beizumessen.
Identität
Ein bedeutsames Thema wird in Zukunft die Neuentdeckung der Natur sein.
Die zentrale Problematik der Moderne, nämlich die Beziehung zwischen
Ökonomie, Technologie und Natur und die Bewältigung ökologischer
Krisen, wird in den westlichen Gesellschaften bis jetzt lediglich ökonomisch
und technologisch gedacht. Doch fordert die einseitig instrumentelle Rationalität
der westlichen Kultur angesichts des Klimawandels langfristig doch einen
Paradigmenwechsel im Denken. Hier muß nach Anknüpfungsmöglichkeiten
an alternative Denkformen gesucht werden.
Die postmoderne Dekonstruktion war ein Versuch, den westlichen Logozentrismus
zu entthronen und marginalisierte Ansätze zu emanzipieren. Durch das
Dekonstruktivismusparadigma jedoch, das in den heutigen Mentalitäten
oft vorherrscht, werden Ansätze, die auf einen integralen Natur- und
Wirklichkeitsbegriff abzielen, generell negiert. Für eine andere Umgehensweise
mit Natur hingegen sind Ganzheitsmodelle notwendig.
Eine Verbindung von Ökologie und Kunst bzw. Ästhetik, wie sie
der zeitgenössische Naturphilosoph Gernot Böhme in seiner Schrift
„Die Natur vor uns“ (Böhme 2004) untersucht hat, ist ein
Thema, das künstlerisch und philosophisch zu bearbeiten langfristig
wichtig zu werden scheint. Gernot Böhme behauptet in seinem Buch, dass
es ein Irrtum sei zu glauben, die Natur läge hinter uns, durch Naturwissenschaft
und Technologie könne sie als bezwungen oder befriedet angesehen werden.
Das Gegenteil träfe zu, dass nämlich die Natur in ihrer Zerstörung
als kulturelles und speziell künstlerisches Arbeitsfeld noch vor uns
läge und der Mensch seit der Moderne für den Fortgang der Evolution
verantwortlich sei. Nicht Naturbeherrschung, sondern Naturtransformation
müsse zur zukünftigen Zielorientierung werden, im Rahmen derer
die Kunst neben Wissenschaft und Technik eine wesentliche Bedeutung zukomme.
Für diese Aufgabe sei in den verschiedenen Formen historischen kulturellen
Wissens nach Anknüpfungsmöglichkeiten für einen Orientierungswechsel
zu suchen.
Das Ganzheitsdenken der Frühromantik und der Naturphilosophie in Deutschland
ist eine Weltanschauung, die historisch auf der Verliererseite steht, vielleicht
jedoch wiederentdeckt werden sollte, um das darin liegende Potential für
die Zukunft zu aktivieren. Anknüpfend an naturphilosophische Modelle,
z.B. von Schelling, Goethe oder auch Joseph Beuys, kann die Suche nach wegweisenden
ökologischen Konzepten vertieft werden. Ganzheitlichkeit lässt
sich verschieden denken. Ein Wesensmerkmal ist, im Gegensatz zum heute vorherrschenden
horizontalen, funktionalen Systemdenken, die Dialektik von Identität
und Differenz, von Idee und Erscheinung, eine ontologische Tiefenstruktur,
die auf die Antike zurückgeht und seit Beginn der Moderne der kontinuierlichen
Demontage unterliegt.
Das Programm der Neuzeit besteht offenbar darin, die restlose Absetzung
des Identitätsbegriffs und die uneingeschränkte Herrschaft der
Differenz herbeizuführen. Doch ist das wohl kaum der Weisheit letzter
Schluß.
Kunstbegriff
In einer Reihe von Gesprächen wurde aus verschiedenen Blickwinkeln
der Kulturbegriff untersucht. Kultur ist die gesellschaftliche Sphäre,
in der der Mensch Lebensformen und Qualitäten entwickelt, die über
den reinen Lebenskampf hinausgehen; in der er seine Existenz emporhebt,
indem er die Bedingungen seines Daseins reflektiert und sublimiert. Im Anschluß
an diese grundsätzlichen Überlegungen drehte sich das Gespräch,
stark unterstützt von Dr. Peter Guttenhöfer (Kassel), während
einer längeren Phase um die Kultur der Frühromantik, wobei Fragmente
von Novalis als Ausgangspunkt dienten. Über mehrere Abende standen
mit Schillers „Briefen zur ästhetischen Erziehung des Menschen“
Ideen des Deutschen Idealismus im Mittelpunkt. Es war offensichtlich, dass
diese Inhalte nicht nur Gegenstand literaturwissenschaftlicher Bemühungen
sein sollten, sondern ausgesprochen existentiell und zeitgemäß
sind und die Menschen heute berühren. Von dort entwickelte sich der
Diskurs zu Joseph Beuys und seinem „Erweiterten Kunstbegriff“,
der deutlich von der Erweiterung bzw. Liberalisierung des Kunstkontextes
durch Marcel Duchamp zu unter- scheiden ist. Schiller hatte in seiner Philosophie,
als Reaktion auf Kant, ein dreipoliges Denkmodell ausgebildet, indem er
von drei Grundtrieben des Menschen ausging: Stofftrieb, Formtrieb und Spieltrieb.
Beuys machte daraus, auch anknüpfend an Rudolph Steiner, seine Dreigliederung
des Kunstbegriffs. Seinem Denken lag ein dialektisches, ontologisches Tiefenmodell
zu Grunde, das die Kategorien des bewussten Denkens, des energetischen,
chaotischen Willens und drittens der Bewegung umfasste. Im Bewegungsprinzip,
das, wie bei Schiller der Spieltrieb, die Vermittlung zwischen den Gegensätzen
darstellte, sah er die Sphäre der Transzendenz. Er nannte es auch den
Wärmepol: „Alles kommt auf den Wärmecharakter im Denken
an“. Die Erweiterung des Kunst- begriffs im Beuys´schen Sinne
ist vor allem auf diesem Hintergrund zu sehen.
Chartres
Dr. Tilman Evers vom „Forum Ziviler Friedensdienst“ hielt einen
Vortrag über „Die Schule von Chartres im 12. Jahrhundert“(05.07).
Säkulare Gesellschaft und Religion ist ein aktuelles Thema, dass aus
verschiedenen Blickrichtungen untersucht werden sollte, wobei der religions-
geschichtlichen und philosophischen Herangehensweise eine ebensogroße
Bedeutung zukommt wie der individuellen Suche nach Spiritualität. Der
Vortrag gab ein anschauliches Bild von den religiösen Vorstellungs-
welten im Frankreich des 12. Jahrhunderts und skizzierte die großartige
Kultur der Gotik im Kontext der geistesgeschichtlichen Entwicklung Europas.
Die Kathedrale von Chartres war ein Zentrum der neoplatonischen Frühscholastik.
Anglizismen
Eva Maria Kieselbach vom Verein Deutsche Sprache e.V. stellte in ihrem Vortrag
„Deutsch oder Denglisch“ ihre „Betrachtungen über
Anglizismen“ vor (06.2007). In diesem Zusammenhang rücken die
Fragen nach der kulturellen Identität der Deutschen und ihr Verhältnis
zu ihrer Sprache ins Zentrum der Betrachtung. Sicherlich muß hier
gesehen werden, daß das nominalistische, moderne Sprachverständnis
eine freie Umgehensweise mit Zeichen und ihren Bedeutungen zuläßt.
Die Relation zwischen dem Bezeichnenden und dem Bezeichneten ist willkürlich.
Sprachspiele, das auf temporäre Konventionen beruhende Spiel mit Zeichen,
ersetzen den klassischen Wahrheitsdiskurs. Englisch als Weltsprache, als
Sprache der Ökonomie und Wissenschaft, ist eine Sache; wenn jedoch
deutsche Sprachformen sich dem englischen Satzbau anpassen und vertraute
Inhalte mit englischen Wörtern gesteigert und aufgewertet werden sollen,
drückt sich darin ein Unterlegenheitsgefühl aus. Wenn es stimmt,
dass die Sprache das Herz der Kultur ist, dann zeigt sich hier ein Identitätsverlust
gegenüber der eigenen Kultur, ein Identitätsverlust, dessen Ursache
zweifellos auch im Nationalsozialismus zu finden ist.
Schelling
„Prozeß und Vollendung. Schelling und das Naturproblem“
lautete der Titel eines Vortrags, den Prof. Dr. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik
hielt (6.Febr. 08) Schmied-Kowarzik entwickelte die Grundzüge von Schellings
Naturphilosophie mit der Perspektive einer notwendigen Ergänzung und
Korrektur des in der Moderne herrschenden Naturbegriffs. Einem durch Naturwissenschaft
und Technik bestimmtes, reduktionistisches Verständnis von Natur wird
aller Voraussicht nach durch sein Zerstörungspotential eine Grenze
gesetzt. Schelling hat, als Philosoph des Deutschen Idealismus ebenso wie
Fichte, an die Transzendentalphilosophie Kants angeknüpft. Er hat jedoch
parallel dazu eine Naturphilosophie entworfen, in der er nicht mehr nur
die Bedingungen der Möglichkeit des Erkennens untersuchte und Erkenntnis
auf die internen Vernunftskonstruktionen des Selbstbewußtseins beschränkte,
sondern Prozesse der Natur im Denken gleichsam rekonstruierte. In einer
Vielzahl von Ansätzen versuchte Schelling, mit dem Denken die tatsächlichen,
realen Seinsbedingungen der Natur in ihrer Entstehung und in ihren sich
wandelnden Formen zu erkennen. Er überwand den Skeptizismus des modernen
erkenntnistheoretischen Ansatzes Kants und fand eine Möglichkeit, Naturphilosophie,
wie sie seit der Antike die europäische Kultur und Geistesgeschichte
geprägt hat, auf eine Weise zu denken, die transzendental auf rationalen
Verstandesbegriffen und Kategorien der Vernunft aufgebaut ist. Eine zentrale
Idee hierbei ist die des Organismus als einer Gestaltung der Natur, die
sich aus einer Duplizität von Kräften entfaltet. Am Anfang setzt
Schelling die unendliche Produktivität der Natur, in der, von einer
notwendigen Gegenkraft, die Schelling als Hemmung bezeichnet, begrenzt,
sich der Organismus bildet. Die Wirbelmetapher macht das deutlich: In einem
unendlich fließenden Strom ist der Wirbel, indem er sich an einer
Stauung manifestiert, eine sich gleich bleibende Form, die ständig
durchflossen sich lebend verändert.
Schelling unterschied zwischen der natura naturata, der gewordenen Natur, womit das Naturprodukt als objektivierbarer und erforschbarer Gegenstand gemeint ist, und der natur naturans, also der werdenden Natur, die als Ganzheit gedacht werden muß, in der der Mensch integriert ist und dementsprechend nicht als Subjekt heraustreten und sich den zu erforschenden Gegenstand unterwerfen kann. Eine mögliche Konsequenzen dieser Denkfigur ist „die Natur als Subjekt“, wodurch der naturwissenschaftliche Zugriff relativiert und Naturwissenschaft nicht wie heute üblich absolut gesetzt, sondern als integrativer Teile eines Ganzen gesehen werden kann. Die „Natur als Subjekt“ steht dem erkennenden Subjekt so als gleichberechtigt und als nicht vollständig beherrschbar gegenüber.
Schellings Wirkung auf Wissenschaft und Philosophie war sehr groß.
Seit der endgültigen Durchsetzung des positivistischen, materialistischen
Wissenschaftsbegriffs in der Mitte des 19. Jahrhunderts ist sein Denken
marginalisiert. Allerdings wurde die Dialektik als Bewegungslogik der Natur
von Marx aufgegriffen und zum Grundprinzip historischer Prozesse weiterentwickelt.
Die naturphilosophische Ontologie Schellings wurde so zum historischen Materialismus,
zum Entwicklungsprinzip von Gesellschaften, transformiert.
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