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Negation und Idealismus - zur documenta 13



documenta 13 im Nachklang
Von Michael Evers - 3. 12. 2012

Die documenta 13 ist vorüber, vieles ist gesagt, das Pro und Kontra formuliert. Die abschließenden Beurteilungen waren mehrheitlich positiv bis euphorisch, doch gingen die Wahrnehmungen mitunter extrem auseinander, es gab es auch sehr negative Einschätzungen. Als Kasseler habe ich von Beginn an die Ereignisse aus der Nähe erlebt, und was mich jetzt interessiert, ist die Frage, ob der Geist dieser Ausstellung weiter- gehende Auswirkungen auf die Entwicklung der Kunst haben wird. Die Wiederentdeckung der Natur war ein zentrales Thema, und das ist vor dem Hintergrund, dass die Kunst mit der Postmoderne angeblich ihre Emanzipation vom Naturbezug vollzogen habe, überraschend. Eine neue, ungewöhnliche Atmosphäre war zu spüren, nämlich die weitgehende Abwesenheit von Pop und Zynismus und stattdessen Positivität, Aufbruchstimmung und ein Idealismus, als sei der Glaube an die Transzendenz und wirklichkeitsverändernde Kraft der Kunst wieder zum Leben erwacht. Nicht von ungefähr wurde Beuys häufig zitiert, sein Geist schien über der Ausstellung zu schweben, und das war erstaunlich genug. Die Idee der Ganzheitlichkeit war eines der Leitmotive der Schau; für nicht wenige Besucher hatten manche Kunstwerke religiösen Charakter. Waren diese Phänomene ein singuläres Ereignis ohne weitere Konsequenzen oder zeigte sich in ihnen eine Tendenz? Ich werde hier nicht auf die Kunstwerke eingehen, sondern mich auf einige philosophische Probleme der Ausstellung konzentrieren. Obwohl die documenta-Leiterin Carolyn Christov-Bakargiev anfangs behauptete, sie habe kein Konzept, erwies sich diese Aussage als Verschleierungstaktik, denn eine umfassende Programmatik wurde durchaus erkennbar. In der Überbautheorie taten sich schwer zu ertragende Widersprüche auf - wobei es wohl kaum die Absicht der Ausstellung war, diese aufzulösen, sondern ganz im Gegenteil, die Nicht-Rationalisierbarkeit war Programm. Mystische Rätsel waren gewünscht und für den Diskurs sollte wohl ein unauflösbarer Rest bleiben.
Die Aufregung begann bereits vor der Ausstellungseröffnung mit der Provokationsrhetorik der Chefin über die sich selbst erschaffenden Tomaten und Armreifen. Dazu kam dann die Figur des Künstlers Stephan Balkenhol, die in Sichtweite der Kunsthalle auf die Kirchturm- spitze montiert war. Damit waren die Probleme in der Welt, philosophische, keineswegs nur künstlerische, die Frage nach dem Menschenbild nämlich, nach der Bedeutung des Subjekts und der Natur. Balkenhols Figur auf der Kugel symbolisiert zweifellos das ganz- heitliche, europäische, transzendente Menschenbild: ein Mann, möglicherweise ein christlicher, steht im Zentrum der Schöpfung; das stand offensichtlich im Widerspruch zur documenta-Konzeption. Christov-Bakargiev forderte die Überwindung des Anthropozentrismus, ihre Intention war die Aufwertung der Natur gegenüber ihrer Unterwerfung durch den Menschen. Allerdings stand hier die Degradierung des Menschen in der Tradition der postmodernen Dekonstruktion des Subjekts mit stark feministischen Einfärbungen - Ökofeminismus war der Kampfbegriff. Wir wurden also mit antagonistischen Auffassungen darüber konfrontiert, was der Mensch sei und waren aufgefordert, die Gegensätze zu überblicken.
Die Kuratorin schien eine Art Posthumanismus zu vertreten, der die nicht-menschlichen Lebensformen aufwertet, den Menschen als Materie neben andere materielle Objekte stellt und damit eine Emanzipation der Natur und der Welt der materiellen Dinge insgesamt einfordert. In Balkenhols Figur schien sie ein Symbol für den Machtanspruch des männlichen, rationalen, europäischen Subjekts über die Welt der Objekte zu sehen, und dessen Sturz war für sie die Voraussetzung für die Überwindung der Naturzerstörung und anderer Fehlentwicklungen. Ist das eine sinnvolle Strategie? Denn diese poststrukturalistische Demontage des Subjekts bedeutet auch die Negation seiner inneren Autonomie und folglich Einschränkung seines Selbst- bewusstseins mit der Konsequenz, dass Subjekte dazu neigen, sich äußeren Bedingungen anzupassen oder gar sich einer äußeren Herrschaft zu überantworten. Wollen wir das, dass sich an die Stelle des Selbstbewusstseins eine externe Autorität setzt?
Oder ist primär die Dominanz der männlichen Mentalität das Ziel der Verneinung und sind neue, bislang verdrängte, möglicherweise weibliche Subjektbildungen und Wissensformen die Lösung? Für mich gibt es, um den Punkt gleich klarzustellen, nicht den geringsten Zweifel darüber, dass Frauen in allen Bereichen der Gesellschaft eine gleichberechtigte Rolle werden spielen müssen, denn eine einseitig männliche Kultur hat gravierende Nachteile und ist überlebt. Aber die Künstlerinnen und Künstler dieser documenta standen deutlich unter dem Einfluss eines äußeren Willens: Wenn man als Besucher vor den Kunstwerken stand, mischte sich in die Betrachtung immer die Rhetorik der Leiterin. Man sah die Kunst immer auch durch ihre Brille, vor dem Hintergrund ihres Konzepts. Deswegen funktionierte das Argument, man hätte doch ihre Statements einfach beiseite schieben und die Künstler sprechen lassen können, nicht. Die Künstlerinnen und Künstler arbeiteten gewissermaßen unter einer Zentralregierung, die sich als Gehirn im Zentrum des Fridericianums eingerichtet hatte wie in der Königinnenkammer eines Bienenstocks und von da ausstrahlte bis in alle Winkel der Schau, alles umfasste und, das ist auch klar, alles mit diesem neuartigen Idealismus benetzte. Die extreme Machtposition der Kuratorin wurde stark kritisiert. Ich denke, das ist ambivalent, mit dieser Macht hat sie auch viel Gutes bewirkt – allerdings auf Kosten der künstlerischen Souveränität, und das ist inakzeptabel. - Die Kuratoren sind im heutigen Ausstellungsbetrieb von der Dezentralisierung des Subjekts offenbar ausgenommen.

Von einem extremen Skeptizismus gegenüber dem Subjektiven war auch die Malerei erfasst. Ein Bild weist auf das Subjekt, das es malte, es ist eine Manifestation des Subjekts schlechthin, auch seines Machtanspruchs, weswegen Malerei in dieser Ausstellung entweder nur im Modus der Dekonstruktion oder aus kulturhistorischer Perspektive gezeigt wurde. Den Malerstar, dieses überschätzte Ego, will man nicht mehr, recht so. Offenbar entspricht es dem momentanen Zeitgeist auch, den gegenüber „normalen“ Menschen exponierten Status des Künstlers als elitär und undemokratisch zu empfinden. Dass sich aber in einem gemalten Bild auch Objektives und Universelles manifestieren, dass ein Künstler, so wie jeder Mensch, Subjektivismus und Machtinstinkte transzendieren kann, dieser Perspektive wird aktuell anscheinend nicht viel Vertrauen entgegengebracht. Ob man allerdings mit Kontextkunst unter einer Zentralregierung dem Subjektivismus entkommt, möchte ich bezweifeln.
Eine demontierte, dezentralisierte, wenig selbstbewusste Subjektivität kann die Objekte auch nur dementsprechend defizitär erleben, kann nur eingeschränkt andere Subjekte und Lebenswelten wahrnehmen, fühlen, denken und anerkennen. Die Wahrnehmung des Objekts ist subjektbedingt. Ich sehe diesen Punkt alteuropäisch, gegen jeden skeptizistischen Modediskurs mich stemmend, hartnäckig konservativ und unflexibel: Das Subjekt ist das in der Tiefe unveränderliche Wesen, das den wechselnden Erscheinungen zu Grunde liegt. Im Menschen gelangt die Natur zum Bewusstsein ihrer selbst und nur aus diesem Grunde kann er die Gestaltung aller Lebensbereiche und die Verantwortung für die Natur übernehmen.
Wie denkt nun Christov-Bakargiev über die Natur und ihre Objekte? „Es gibt keinen grundlegenden Unterschied zwischen Frauen und Hunden oder zwischen Männern und Hunden. Auch nicht zwischen Hunden und den Atomen, die meinen Armreif bilden. Ich denke, alles hat seine Kultur. Die kulturelle Produktion der Tomatenpflanze ist die Tomate.“ Ohne Zweifel ist die Aufwertung der Natur notwendig. Von der Emanzipation der Objekte, die nicht die Sklaven der Menschen sein dürften, spricht auch der französische Soziologe Bruno Latour, er fordert ein „Parlament der Dinge“. Vor dem Hintergrund des Poststrukturalismus hingegen, der die Kunst-Diskurse noch immer in weiten Teilen beherrscht, ist die Natur keine eigene Wirklichkeit an und für sich, aus sich selbst entstehend, sondern sie ist nur ein sprachliches und kulturelles Phänomen, eine Bedeutungseinheit in dem Gefüge unseres Wissens. Die Tomatentheorie ist demgegenüber ein erkenntnistheoretischer Bruch. Dem Naturobjekt wird ein eigenständiges Sein unabhängig vom menschlichen Bewusstsein zugesprochen - man bekommt den Eindruck einer Beseelung der Materie.
Zusammen mit der Dezentralisierung des Menschen, seiner Gleichstellung mit den Tieren und Dingen, ist dies der Versuch einer Überwindung der zerstörerischen Kultur-Natur-Dualität und einer Einheitssicht. Aber kann das so funktionieren? Dass die Natur von Zwecken bestimmt wird, also die Tomate das Ziel der Tomatenpflanze sei, diese teleologische Vorstellung wird schon lange eben von der Seite, der auch Christov-Bakargiev angehört, dem Skeptizismus nämlich, abgelehnt. Des Weiteren können wir voraussetzen, dass die Idee eines Natur-Subjekts, die der Naturphilosophie der Romantik entstammt, hier ausgeschlossen werden kann. Die kulturelle Produktivität der Menschen mit der Selbstorganisation der Atome des Armreifens gleich zu stellen, das ist wirklich eine schwer zu verdauende Einheitslehre. Von ähnlicher Art war ihre Ausführung über den Fußball, der sich selbst seinen Weg bestimmt, statt vom Spieler in eine Richtung getreten zu werden.
Die Emanzipation der Materie ist hier vermutlich auf der Grundlage des Konzepts der Selbstorganisation zu sehen, einer materialistisch-mechanistischen Evolutionstheorie. In der Konsequenz bedeutet dies die Degradierung des Künstlers, der folglich mit Atomen, Tomaten und Hühnern gleichgestellt ist - welch ein bizarrer Kunstkommunismus. Das menschliche Bewusstsein mit seiner Kreativität habe als Ergebnis rein materieller Prozesse den gleichen Status wie der Armreif, der, in dieser Logik, das Ergebnis der Selbstorganisation der Atome sei. Hinter dieser Gleichsetzung von Kultur und Natur lässt sich ein materialistischer Monismus erkennen - mit modisch-buddhistischem Flair. Doch die Aufhebung der Subjekt-Objekt-Spaltung und die Verbundenheit aller Dinge sind so einfach nicht zu bekommen, keinesfalls durch eine Egalisierung auf der Grundlage einer materialistischen Weltanschauung. Das Bild vom Fußball, der ohne den Willen des Spielers selbst bestimmt, wohin er fliegt - das man wahlweise als mystische Provokation oder als Gedankenexperiment verstehen kann - steht für die Überwindung der Mensch-Ding-Hierarchie. Im ersten Falle ignoriert der Ball seinen Spieler und tut, was er will – das allerdings konfrontiert uns mit einer ganz anderen Wirklichkeit. Denn nur was Seele hat, kann sich selbst bewegen. Der zweite Fall beruht auf einem Subjekt-Transfer, einer Projektion von Autonomie auf das Objekt, das zu einem “Quasisubjekt“ wird.
Vollends esoterisch wird es, wenn man folgendes liest: „dOCUMENTA (13) wird angetrieben von einer ganzheitlichen und nicht-logozentrischen Vision, die dem Wissen der belebten Welten-Schöpfer (darunter Menschen) innewohnt und von diesen erkannt wird.“ Ein idealistisch geschraubter Satz, in dem Tiere und Pflanzen zu bewussten Subjekten erhoben werden. Die ihren Zweck in sich tragende Tomate ist eine Vorstellung, die metaphysisch in der Tradition etwa von Aristoteles, Leibniz oder Schelling plausibel zu begründen wäre, man müsste dann Begriffe wie Entelechie, Monade oder Weltseele einführen. Doch dieser Weg ist im Rahmen des heutigen säkularen Mainstreams so verschlossen, wie nur irgend etwas verschlossen sein kann. Zu diesen Denktraditionen sind nach dem Sturz der Metaphysik alle Brücken gesprengt. - Eventuell stößt das moderne Projekt aber doch an seine Grenzen.
In der Vortragsreihe des Philosophen Christoph Menke „Was ist Denken“, die während der hundert Tage im Kasseler „Ständehaus“ stattfand, sind die aktuellen erkenntnistheoretischen Fragen diskutiert worden. Sehr bedauerlich war, dass an keiner Stelle des Diskurses ein Bezug hergestellt wurde zur Natur-Kunst und zur Naturphilosophie, die sich in Deutschland seit den 70er und 80er Jahren entwickelt haben (Natur-Kunst – Künstlersymposien in Deutschland, Sigrid Wollmeiner 2002). Diese zukunftsweisenden Strömungen, in denen das Naturproblem bereits auf eine neue Art gestaltet und gedacht wurde, waren relativ unberührt von dem Negationsprogramm der Postmoderne. In ihnen wirkte und wirkt noch immer die in Deutschland unterschwellige Tradition der Frühromantik mit ihren Ganzheitsvorstellungen. Im Kasseler Kunstsommer 2012 hingegen wurde die von Christov-Bakargiev beschworene integrative Weltsicht nicht erreicht. Im Rahmen von Pluralismus und Differenzparadigma von Ganzheitlichkeit zu reden, ist ohnehin paradox, ein Widerspruch in sich selbst. Die Theorieatmosphäre blieb nebulös. - Meine Hoffnung ist, dass trotz der philosophischen Widersprüche der positive Geist der documenta 13 weiterhin ausstrahlt, sind doch die Wiederentdeckung der Natur und die Suche nach Ganzheitlichkeit und Spiritualität zukunftsweisend.


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